Die Therapiegeschichte von Ronja Dreyer

Mathe ist halt nicht ihr Ding …

Ronja Dreyer (Name geändert) erinnert sich noch genau: Es war ein ganz besonderes Hochgefühl. Und es war der Anfang vom Ende eines schlimmen Jahres, ihres zweiten Jahres in der Grundschule.

Kind vor Tafel

Ronja saß in ihrem Zimmer über den Hausaufgaben. Ihre Mutter kam herein, um nach dem Rechten zu sehen. Das Übliche an so einem Wochentag: „Man fragt sich: Wo steckt sie jetzt wieder fest? Werden wir heute wieder zwei Stunden und länger an diesem Schreibtisch verbringen, Hieroglyphen auf kariertes Papier kritzeln, uns die Köpfe heiß reden, irgendwann die Nerven verlieren und trotzdem alles wieder und wieder durchexerzieren, bis am Ende mindestens eine von uns heult und wir alle beide total frustriert ins Bett fallen?“

Bärbel Dreyer fragte sich das nicht ohne Grund. Beinahe täglich erlebten und erlitten die beiden das, nun schon ein Jahr lang, praktisch seit Ronja in die zweite Klasse gekommen war. Und seit ihr, der Mutter, klar geworden war, dass die Probleme ihrer Tochter mit dem Rechnenlernen nicht einfach nur in die Kategorie „Mathe ist halt nicht ihr Ding …“ gehörten. Seit sie sich vorgenommen hatte, ihre Tochter nicht tatenlos ihrem Schicksal zu überlassen.

Und nun dieser Tag. Ronja sitzt an ihrem Schreibtisch und strahlt ihre Mutter an. „Hallo Mama, ich bin gerade fertig geworden. War echt einfach!“ Zum ersten Mal hat Ronja ihre Mathe-Hausaufgaben ganz alleine gemacht. Unfassbar! Völlig undenkbar war das bisher. Doch es hat sich etwas geändert. Dieser Tag markiert für beide den wunderbaren Beginn einer neuen Alltäglichkeit: Ronja kommt mit Mathe klar. Zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Schwester sitzt Ronja in einem Café in Köln, um gemeinsam von der Zeit zu erzählen, als Ronjas Rechenschwäche den Haussegen im Hause Dreyer in eine bedrohliche Schieflage brachte. Heute können sie darüber lachen. Damals ging es allen an die Substanz.

Das wird schon irgendwie ...

Zwei Hände und viel Zahlenschildchen

„Als erstes habe ich mich natürlich an die Mathelehrerin und an die Schule gewandt“, erzählt Frau Dreyer. „Aber die haben erst mal überhaupt nicht reagiert. Die sind davon ausgegangen, dass das schon irgendwie werden wird.“ Ein Test beim Kinderarzt sprach da eine ganz andere Sprache: Ronja schnitt in allen Intelligenzbereichen gut ab, nur in Mathe nicht: Prozentrang 1 – das bedeutet, 99 von 100 Kindern ihres Alters sind im Rechnen besser als Ronja. „Da wusste ich, dass dringend etwas passieren muss!“ Bärbel Dreyer vereinbarte einen Termin beim Schulpsychologischen Dienst, der 2003 in Köln noch zuständig war, wenn für ein Kind aufgrund einer Teilleistungsschwäche außerschulische Förderung beantragt wurde. Die Wartezeit betrug ein halbes Jahr, viel zu lange für Ronja und ihre Mutter.
„In dieser Zeit, wo doch der Schulstoff immer schwieriger wurde und Ronja ständig Hausaufgaben nach Hause brachte, die sie nicht verstand, habe ich mit allen Mitteln versucht, ihr das Rechnen zu erklären. Oft bis in den späten Abend hinein. Wir haben praktisch nur noch an Mathe gedacht. Es war wirklich ein ganz schlimmes Jahr“, erinnert sich Bärbel Dreyer.

Ronja selbst erinnert sich an Stunden um Stunden, die sie mit den Hausaufgaben zubrachte, an Heulen und Streiterei – und daran, wie ihr Kindergeburtstage stets ein Gräuel waren: „Ich hatte immer Angst, es gibt wieder so eine Rechen-Rallye, bei der ich überhaupt nichts kapiere.“ Heute kann sie dieses Drama gar nicht mehr so richtig verstehen. Denn irgendwann, ab jenem denkwürdigen Tag, hatte es sich ja geändert. „Da habe ich auf einmal gedacht: Och, Mathe hat ja richtig einen Sinn!“ Das Einkaufen beim Kiosk oder im Supermarkt war plötzlich eine lösbare Aufgabe. Und irgendwann kam sogar Spaß ins Spiel. „Da habe ich mich nach der Schule mit einer Freundin getroffen, um mit ihr Mathe zu machen. Sie war in einem anderen Schuljahr, aber gemeinsam haben wir Aufgaben in unseren Übungsheften gelöst – einfach so, um zu sehen, wie viele schaffen wir heute.“

Vom Mathe-Unterricht befreit

Tafel mit Zahlen

Die Testung beim Schulpsychologen ergab eindeutig: Ronja Dreyer ist rechenschwach und benötigt dringend eine spezielle lerntherapeutische Förderung. Zu diesem Zwecke wurde sie an das Lerntherapeutische Zentrum Rechenschwäche/Dyskalkulie (LZR) am Kölner Hansaring verwiesen, und das Jugendamt der Stadt willigte ein, die Kosten einer Therapie zu tragen.

Ronjas Dyskalkulietherapeutin im LZR nahm sofort Kontakt mit ihrer Grundschule auf und konnte Lehrerinnen und Schulleitung davon überzeugen, dass Ronja aus dem Matheunterricht der 3. Klasse keinerlei Nutzen zog, ja nicht ziehen konnte! Und nicht nur das. Da ihr Selbstvertrauen durch den Misserfolg exzessiven Lernens und Übens immer stärker untergraben wurde, waren inzwischen auch ihre Leistungen in anderen, vormals guten Fächern abgefallen. Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, willigte die Schule nun in eine ungewöhnliche Maßnahme ein: Ronja wurde vom Matheunterricht der 3. Klasse komplett befreit. Ihr sollte Zeit gegeben werden, die Grundlagen der Mathematik in den Einzelstunden mit ihrer Dyskalkulietherapeutin nachzuholen, um später dann auf einem ihr entsprechenden Leistungsniveau wieder in den Schulunterricht einzusteigen. Und so geschah es auch.

Ronja erholte sich in den Monaten ohne regulären Matheunterricht von ihren frustrierenden Erfahrungen mit dem Rechnen. Gleichzeitig erlernte sie in der Therapie die Zusammenhänge von Zahlen und Mengen, die Logik von Addition und Subtraktion und den Aufbau der Zahlen von Grund auf neu. Die Hausaufgaben, die sie aus der Therapie mitnahm, konnte sie von Anfang an alleine bearbeiten, ihre Mutter mischte sich nicht mehr ein, es sei denn als Partnerin für eines der vielen Spiele, mit dem die Therapeutin Ronja für die Welt des Rechnens zu begeistern verstand.
Gegen Ende des 3. Schuljahres konnte Ronja dann wieder am Matheunterricht in der Schule teilnehmen, allerdings im Rahmen einer 2. Klasse. Jetzt war sie wirklich so weit – Rechnen im Hunderterraum, die Anfänge von Multiplikation und Division, all das konnte Ronja jetzt nicht mehr schrecken. Und die Hausaufgaben kriegte sie endlich – oh Freude! – auch alleine hin.

Wie es weiter ging? Ronja verkraftete problemlos einen Therapeutenwechsel (ihre erste Therapeutin erwartete ein Kind) und lernte fortan mit ihrem neuen Therapeuten die Multiplikation, Division, den Umgang mit drei- und mehrstelligen Zahlen und die schriftlichen Rechenverfahren. Sie blieb ihrer alten Klasse bis zum Ende des 4. Schuljahres treu, nahm aber weiter am Matheunterricht der Klasse 3 teil. Und als es soweit war, wiederholte sie in „ihrer Matheklasse“ das 4. Schuljahr komplett. In diesem Jahr machte sie ganz normal im Matheunterricht mit, wobei die Rücksichtnahme auf ihren individuellen Leistungsstand, zu der sich die Schule verpflichtet hatte, zusehends überflüssig wurde. Ronja beendete das letzte Grundschuljahr mit lauter guten Noten – wohlgemerkt: auch in Mathe!

Seit dem Sommer 2006 besucht Ronja nun eine Gesamtschule in Köln. Für ihre erste Mathe-Klassenarbeit bekam sie ein „sehr gut“. Weitere gute und sehr gute Noten folgten. Ihre neue Mathe-Lehrerin kann es bis heute nicht so richtig glauben, dass dieses Mädchen einmal Probleme mit dem Rechnen gehabt haben soll. Und auch Ronja selbst scheint sich manchmal kneifen zu wollen.

Der Prozess des Neuerlernens

Zwei Kinder und eine Lehrerin vor einer Tafel

Rückblickend ist sich Ronjas Mutter sicher, dass es vor allem das Jahr ohne jeden Notendruck von Seiten der Schule gewesen ist, in dem sich Ronja von ihrem negativen Mathe-Bild lösen und sich dem lerntherapeutischen Prozess des Neulernens der Mathematik öffnen konnte. Und auch ihr als oftmals hilfloser Mutter habe es sehr gut getan, dass der Druck auf einmal nachließ. „Endlich sagte mir jemand, was ich überhaupt mit ihr üben kann, aber auch, wovon ich besser die Finger lasse!“ Während der Dyskalkulietherapie habe sie mit Ronja schließlich gar nicht mehr am Schulstoff geübt, sondern nur noch, was ausdrücklich durch die Therapeutin oder den Therapeuten empfohlen wurde.
Und schließlich sei auch die Qualität des Arbeitens mit der Mathematik im Lerntherapeutischen Zentrum eine ganz andere gewesen als in der Schule. Bärbel Dreyer: „Kinder, die nicht eine ausgesprochene Mathe-Ader haben, verstehen in der Schule oft gar nicht so richtig, worum es geht. Es gibt meistens kein Nachhaken, ob es wirklich verstanden wurde, weil dafür die Zeit fehlt. Und die Vorstellungen und Zusammenhänge werden meiner Meinung nach nicht ausreichend vermittelt. Dann wissen die Kinder zwar, wie man stellenweise richtig rechnet, aber die Mengendimension haben sie überhaupt nicht begriffen.“

Für Ronja gab es keinen anderen Weg, die Mathematik doch noch richtig zu erlernen, da ist sich die Mutter sicher. Manches Mal habe sie sich gefragt: „Was wäre gewesen, wenn wir das LZR nicht gehabt hätten? In der Grundschule wurde mir gesagt, Ronja sei für die Regelschule nicht geeignet. Und heute? Da gehört sie auf der Gesamtschule zu den leistungsstarken Schülern!“

Kommentar:

Wer das erste Knopfloch verpasst ...

An „jenem Tag“, als Ronja Dreyer zum ersten Mal ihre Hausaufgaben allein schaffte, da war kein Wunder passiert. Es fühlte sich nur so an. Und so außergewöhnlich und beglückend für sie und ihre Mutter ihr persönlicher Ausweg aus der Rechenschwäche auch erscheinen mag, so folgerichtig ist er doch. Ronja hat das Rechnen gelernt, weil ihr rechtzeitig geholfen wurde, und zwar mit geeigneten Mitteln. Ihr fehlten ja nicht die Fähigkeiten zum Rechnen, sie hatte nur den Zugang nicht gefunden. Von Goethe soll die Weisheit stammen: „Wer das erste Knopfloch verpasst, der kommt mit dem Zuknöpfen nicht zurecht.“

Dyskalkulietherapie tut in so einem Fall das Nächstliegende: die Jacke aufzuknöpfen und mit dem richtigen Knopfloch neu zu beginnen. Wenn dies früh genug geschieht, sind die Aussichten auf einen ähnlich guten Verlauf wie bei Ronja günstig. Der Prozess des Neulernens der Mathematik hält im Prinzip für jedes rechenschwache Kind solche Erlebnisse bereit. Mal kommen sie daher wie ein großer Durchbruch, mal als eine Reihe kleinerer Aha-Erlebnisse. Aber immer handelt es sich um dasselbe: einen Augenblick, in dem die Furcht erregende Welt der Mathematik mit ihren Symbolen und Begriffen durch die Kraft eigenen Denkens ihren Sinn enthüllt. Und auf einmal ist da, wo man mit Anstrengung und Niederlage rechnete, Erleichterung und Gelingen.

Aufgezeichnet von Ulf Grebe (LZR Köln)